TRICK AND TREAT
Kinder verblüffen immer wieder durch äußerst lebendige Ängste. Wie in der digitalen Fotografie zieht und zerrt ihre Imagination herzhaft an den Farbkurven, ohne dass der Realitätszensor jemals eine Chance auf dokumentarische Wirklichkeit hätte. Ich hatte als Kind zum Beispiel eine Heidenangst vor dem Bild der Hexe aus Walt Disneys Zeichentrick-Verfilmung von Schneewittchen. Ich konnte die farbige Zeichnung auf der Rückseite meiner Hörspielplatte nicht anschauen, ohne mich augenblicklich zu fürchten.
Vier Jahrzehnte später begegnete ich einer anderen Hexe in einem Traum. Ich stand des späten Abends auf einem breiten Holzbalkon, so wie es sie in den Alpenländern viele gibt. Den Rücken hatte ich glühend roten Geranien und hohen Berggipfeln zugewendet. Es war schon beinahe völlig dunkel, als ich hinter mir etwas Kaltes, Unbestimmtes spürte. Nichts ahnend drehte ich mich um und blickte direkt in das Gesicht einer aschfahlen, grässliche Hexe mit gefährlich dunklen Augen und einer schwarzer Kapuze. Sie schwebte keine zehn Zentimeter von mir entfernt auf einem Besen in der Luft und starrte mich an.
Als ich den kleinen Freizeitpark im Taunus betrat, staunte ich nicht schlecht über das große goldene Halloween-Bankett, das dem Besucher dort bereitet wurde. Das Wunderland, das damit wirbt, ein Park mitten in der Natur zu sein, war in einen Ort voller Monster, Mumien und Mutationen verwandelt. Grinsend hatten sie die Regie übernommen. Meterlange Spinnweben und unzählige Skelette säumten die Wege und grünen Plätze. Der Tod in Gestalt des gruselig-fröhlichen Popanz frohlockte vor jedem Fahrgeschäft. Ein Bestiarium des Horrors lockte mit olfaktorisch fragwürdigen Schwaden in eine dunkle Höhle voller Nebel und Lichter.
Ich hatte durchaus mein Vergnügen, auch wenn ich nicht zu denen gehöre, die sich gern als Tod verkleiden, um durch einen Park zu stolzieren. In der wackeligen, knarrenden Hexenschaukel des düsteren Spukhauses wurde mir vom Rucken und Drehen der Wände speiübel. Der eigentliche Horror ging für mich aber eher von den vielen Menschen aus, die teils verkleidet, teils nicht, in kinderreicher Schleppe an diesem sonnigen Herbstsonntag in den Freizeitpark geströmt waren, um sich ihren letzten Ferientag mit Grusel und Gravitationskitzel zu versüßen.
Beschleunigung und Schrecken, Spaß und gespieltes Entsetzen gingen Hand in Hand, die eine verschwitzt, die andere skelettiert. Draußen vor den Toren reihten sich derweil hunderte Pkws auf der grünen Parkplatzwiese, eine gigantische Ansammlung motorisierten Wohlstandes. Ich hatte nicht das Gefühl, dass jemand große Not litt. Einen Tag später auf dem Bahnsteig in Frankfurt, als mich ein sichtlich mitgenommener Drogensüchtiger um etwas Kleingeld bat, sah das schon wieder anders aus.
[ OKTOBER 2019 ]
sound: corsica-s